8/9: Autorenlesung - Irgendwo aus dem Nirgenwo…
…kam heute Frank Maria Reifenberg heute ans Dio zur Autorenlesung. Naja, aus dem Nirgendwo stimmt nicht so ganz, eigentlich kam er aus Köln. Er habe es hinaus in die weite Welt geschafft, zumindest ca. 80 km heraus aus dem Nirgendwo im Westerwald, so seine Aussage.
Für die jährliche Autorenlesung der Jahrgangsstufen 8 und 9 waren spannende, ganz unterschiedliche Werke gewählt worden, aus denen er vortrug und zu deren Entstehung er sprach. Im Anschluss hatten die Schüler:innen noch Zeit, ihre Fragen an diesen Autor zu stellen. Zudem bot Reifenberg den 8. Klassen augenzwinkernd an, nicht nur Fragen zum Lesen und Schreiben zu beantworten, sondern auch im Bereich Lebenshilfe zu beraten, so dies gewünscht sei.
Zunächst stellte er „Projekt Lazarus“ (2021) vor, in dem es um Unsterblichkeit und die Entwicklung der künstlichen Intelligenz „Charlie“ geht, die letztendlich ein besserer Mensch werden soll, inkl. Gefühlserkennung und mit der Fähigkeit, allein Entscheidungen treffen zu können. Zu den Versuchspersonen gehören Noah und Moses, die aus finanziell schwach gestellten Familien kommen und die Bezahlung für die Teilnahme gut gebrauchen können (ein belesener Mensch – oder Lehrer –, wer hier an Büchners „Woyzeck“ denkt). Wie diese hochspannende Geschichte ausgeht, in die z.B. auch Homeland Security involviert ist – das muss allerdings jede:r selbst lesen.
Dabei sprach Reifenberg über sein Interesse an KI und seine Recherchen dazu, denn diese gestalteten sich vor der Veröffentlichung von ChatGPT (Nutzung seit November 2022 möglich) gar nicht so leicht, wie man meinen könnte. Oberflächlich sei KI verhältnismäßig leicht zu verstehen, sobald es ins vertiefte Verständnis gehe, werde KI jedoch im höchsten Maße kompliziert. Mit diesem Thema erreichte er seine Zuhörer:innen direkt, auch wenn die ersten Reaktionen zögerlich waren. Letztendlich wurden sich alle bewusst: Wir nutzen täglich mehrfach KI, ob Google, Alexa, Navigationssysteme etc. Deutlich machte er, dass KI vielfältige Möglichkeiten bietet, Gefahren wie Nutzen.
Die Anspielung durch die Namen auf die Bibel verstanden einige Schüler:innen sofort und hakten nach: Diese sei bewusst gewählt und durchaus auf die Spitze getrieben, da es um Unsterblichkeit gehe – ein wichtiges Thema auch in der Bibel – doch zu viel verraten wollte Reifenberg nicht.
Auf die Nachfrage, warum er dieses Thema gewählt habe, nannte der Autor zunächst persönliches Interesse. Das Thema habe ihn „angesprungen“, er habe recherchiert. Dies sei übrigens ein Großteil des Aufwandes, den es brauche, um ein Buch zu schreiben. Er schätze die Zeit des Schreibvorgangs auf ca. 6 Monate, dazu komme eben vorher besagte Recherche, nachher die Überarbeitung, das nehme durchaus Zeit in Anspruch. Da sein Buch nach drei Jahren noch im Handel verfügbar sei, hält Reifenberg es für erfolgreich – sonst hätte es sich nicht so lange gehalten.
Davon leben könne er tatsächlich, gab er auf eine Frage hin preis. Damit sei er erfolgreich, denn nicht jeder Autor könne ausschließlich vom Schreiben lesen. Trotzdem biete er auch Leseförderprojekte an (z.B. „Kicken und Lesen“, was in unserer Erprobungsstufe bekannt sein dürfte). Damit könne er nicht nur leben, sondern auch Urlaube und Restaurantbesuche bezahlen, teilte er fröhlich und grinsend mit. Bevor er Autor geworden sei, habe er im Bereich public relations / Marketing und Werbung gearbeitet, dann aber das Bedürfnis verspürt, „etwas Anderes“ machen zu wollen. Auf Anraten eines Freundes hin und mit ein wenig Glück sei er dann zum Schreiben gekommen. In 25 Jahren habe er nun 50 Bücher veröffentlicht, zudem Hörspiele geschrieben und auch an einer Oper gearbeitet. Ebenso habe er auch schon für die Sesamstraße geschrieben. – Ein breites Repertoire!
Reifenberg stellte sich als vielseitig interessierter Autor dar: Er verfasse gern Einzeltitel, auch Drei- oder Fünfteiler, aber für echte Serien langweile er sich zu schnell. So habe er gern über Gustav und Kulu (ein jugendlicher Schwarzer im 19. Jahrhundert in Europa, der zur Menschenschau diente, bevor er mit Gustav ein Abenteuer im Kongo erlebt – „An den Ufern des Orowango“, 2023) geschrieben, möge aber auch Zukunftsvisionen sowie ungewöhnliche Freundschaften inkl. Identitätsfindung („Scheiß was drauf“, 2024). Ebenso liebe er „Mister Lugosi und der unheimliche Adventskalender“ (2009), daneben auch seinen letzten Roman „Genesis rebootet“ (2024), in dem es um ein gefährliches Sozialexperiment gehe. Was es von ihm (bisher) nicht gebe, sei die Verfilmung eines seiner Bücher. Dies erscheine ihm wie ein Lottogewinn – ebenso selten.
Reifenberg selbst liest aktuell am liebsten Western und stellte in Aussicht, dass sein nächster Roman sich um einen deutschen, nach Amerika ausgewanderten Jungen, der um 1870 nach acht Jahren des Zusammenlebens mit Apachen zurück in ein „normales“ Leben gehen soll, drehen könnte. Warum nicht etwas Autobiographisches? Man darf gespannt sein, nachdem der Autor sich selbst eine galoppierende Fantasie und Neugier nachsagt, die in seinem Vortrag spürbar war!
Ganz andere Töne, die aber nicht minder spannend waren, gab es in der Lesung für die 9. Klassen. „Wo die Freiheit wächst“ (2019) entpuppte sich trotz seiner Situierung im Zweiten Weltkrieg als aktueller denn je. Der Verfremdungseffekt mag vielleicht sogar zu klarer Sicht verhelfen, wenn man heutzutage durch Systeme und Entwicklungen nicht mehr durchblickt. Verfremdung entsteht nicht nur durch die Zeit, in der der Briefroman spielt, sondern auch durch das Medium Brief – „das Whats App-Äquivalent der damaligen Zeit“, so Reifenberg.
Die Idee zum Roman sei bei einem Fund eines Briefes seines Onkels Otto Reifenberg entstanden. Das beiliegende Foto sei ein Fake (durch die hineinretuschierte Uniform des im Krieg mit 19 Jahren verstorbenen Onkels), vergleichbar mit heutigen Fake-News bzw. Instagram-Filtern, die die Wirklichkeit verzerren. Denn: Es gäbe kein Bild seines Onkels in Uniform, so schnell sei er gestorben. Trotzdem sollte der Anschein erweckt werden, er sei den Heldentod für seinen Führer gestorben und nicht sinnlos.
Zudem habe er unheimlich viele Zeitzeugnisse von Mutter gehört, die sich noch genau an vieles erinnert habe. So sei sie im Zweiten Weltkrieg gleich zweimal ausgebombt worden, während eines Angriffs als Fünfjährige verloren gegangen und zum Glück wiedergefunden worden. Des Weiteren hätte sie immer einen gepackten Koffer parat gehabt, um bei Bombenalarm ein paar Habseligkeiten zu retten. Dieser sei jedoch immer zurückgelassen worden. Reifenbergs Mutter findet sich auch als Romanfigur wieder: Ein kleines Mädchen namens Edith.
Die weitere Authentizität erlange der Roman durch Reifenbergs Recherche: Er habe viele Zeugnisse aus der Zeit gelesen, Tagebücher wie Briefe, und dafür unzählige Materialien aus Archiven gesichtet. Aufgrund der vielen Briefzeugnisse habe er sich auch schnell für einen Briefroman entschieden: Nur so konnte der äußerst persönliche Tonfall eingefangen werden, der im einen Moment romantische Gedanken schildert, im nächsten die Gräuel- und Horrorszenarien des Kriegs schildert.
Dies übernimmt in „Wo die Freiheit wächst“ die Hauptfigur Lene aus Köln, die ihrer Freundin auf dem Land, ihrem Bruder an der Front und anderen Personen schreibt und von ihnen Briefe zurückgeschickt bekommt. Sie schreibt über erste (pragmatische) Liebschaften, Erlebnisse im Umgang mit Juden, aber auch ihr Erleben von Bombenattentaten. Besonders hervorzuheben ist die Begegnung mit dem „Edelweißpiraten“ Erich, in den sie sich verliebt. Besagte Jugendgruppierung leistete tatsächlich Widerstand gegen die Indoktrinierung von Weltbildern und Ideologien durch das Nazi-Regime. Sie trafen sich beispielsweise in gemischten Gruppen (Mädchen und Jungen), verfassten Flugblätter u.ä.
Besonders fasziniert hat Reifenberg dabei die Rolle der Mädchen, da diese v.a. in der Nachkriegszeit totgeschwiegen wurde. Selbst als Kriminelle wurden Edelweißpiraten lange angesehen. Sein Privileg als Autor sei es jedoch, über alles schreiben zu können. Dies gab er auch den Schüler:innen mit: Auch heute geht es um uns, um Widerstände, um Worte, um Veränderung. Nur weil jemand durch eine feste Struktur und ein bestimmtes Vorgehen vermeintliche Sicherheit schaffe, sei dies nicht gleich richtig und müsse kritisch betrachtet werden.
Vielen Dank für den Besuch und die spannende Lesung!
Wir bedanken uns zudem beim Förderverein für die großzügige Übernahme eines Großteils der Kosten für die Lesung mit diesem einfallsreichen Autor!
Beide Romane können ab Anfang November auch in unserer Schülerbibliothek ausgeliehen werden – seid also gespannt auf die jeweilige Story und deren Ende!
(Bilder: Drobietz, Witczak / Text: Witczak)
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